Ex-Raucherin – Ansichten

Ansichten einer Ex-Raucherin

Wenn man raucht, nimmt man mit jeder Zigarette ca. 3.800 Substanzen auf – u.a. 1,5 mg des
pflanzlichen Nervengifts Nicotin.

Im ‘Belohnungszentrum’ des Vorderhirns – dem sogenannten Nucleus accumbens – setzt die Wirkung des Nicotins bereits nach sieben bis zehn Sekunden ein, weil das Tabakgemisch im gasförmigen Zustand die Blut-Hirn-Schranke leichtgängig überwindet, obendrein auch die Flimmerhärchen in der Lunge matt setzt und über die Lungenbläschen direkt in den Blutkreislauf des Körpers eintritt. Durch die Nervenenden in der Lunge wird das Nicotin an die nicotinischen Acetylcholin-Rezeptoren im Gehirn
übermittelt und beeinflusst an dieser Stelle sofort den Hirnstoffwechsel.

Denn: Ein Zusatzstoff von Zigaretten ist der ‚Nicotin-Beschleuniger‘ Ammonium bzw. Ammoniak.
Darüberhinaus hat Nicotin eine biochemische Struktur, die der biochemischen Struktur von
Acetylcholin besonders ähnlich ist. Und hirnphysiologisch betrachtet, haben ausgerechnet die
Acetylcholin-Rezeptoren einen ‘kurzen Draht’ zum ‘Lern- und Gedächtniszentrum’, dem sogenannten
präfrontalen Cortex. Zudem liegen sie unmittelbar an der Oberfläche des ‘gratifizierenden’ Nucleus
accumbens. Infolge ihrer nikotininduzierten Stimulanz verströmen sie u.a. die ‘Glücksstoffe’ Dopamin und Endorphin. Aus meiner Sicht begünstigen sie dadurch den trugschlüssigen ‘Lernerfolg’, dass Rauchen ein Gefühl von Freiheit und Wohlbefinden geben würde bzw. sogar Spaß machen könnte.

Die Acetylcholin-Rezeptoren schütten auch noch einen anderen sympathischen Botenstoff aus, nämlich: Noradrenalin.
Noradrenalin trägt dazu bei, dass sich die Aufmerksamkeitsspanne erhöht, dass sich das Konzentrationsvermögen mehrt, dass das Wachheitsgefühl wächst und der Energiepegel ansteigt. Denn: Infolge der nicotininduzierten Noradrenalinproduktion verengen sich die Blutgefäße. Dadurch nimmt zuerst der Blutdruck zu, dann auch die Frequenz des Herzschlags.
In der Summe bewirkt dieser substanzstarke Cocktail u.a., dass man zunächst berauschende Gefühle empfindet – zum Beispiel Euphorie, körperliche Leichtigkeit, emotionale Aufnahmebereitschaft und
geistige Agilität. Für mich hat ein solcher Zustand fast an die Sinnlichkeit von Verliebtheit herangereicht und zum Teil spielerisch-ernsthafte Züge getragen – wie bei einem Wettlauf um einen Pokal, dessen
Bedeutung längst auf der Strecke geblieben ist, ohne dass ich eine Notiz davon genommen hätte.

Biochemisch betrachtet, signalisieren diese Prozesse nichts weniger als eine Stressphase.
Darauf reagiert das Gehirn des Menschen üblicherweise gnädig – vor allem dadurch, dass ad hoc ein
antagonistischer parasympathischer Botenstoff im verstärkten Maß produziert wird, nämlich:
Serotonin, der ‘Stoßdämpfer’ gegen Stress- und Schmerzempfänglichkeit.
Die Wirkung des Serotonins sorgt für einlullende Empfindungen, etwa für den Selbsteindruck
aktiver Entspannung, für das Gefühl innerer Ausgeglichenheit und für die Scheinwahrnehmung
regenerativer Müdigkeit. Ich habe mich ungefähr ‘so’ gefühlt, ‘als ob’ ich gerade einen Halbmarathon mit Erfolg gelaufen wäre oder justament erfüllenden Sex gehabt hätte. Denn: Zu einer anderen Reaktion des Parasympathikus gehört, dass die Magensaftproduktion heraufgesetzt wird, ähnlich wie bei
körperlich anstrengenden und anspruchsvollen Alltagsaktivitäten.
In der Folge werden die Körperfette zügiger als sonst abgebaut, der Darm arbeitet hochtourig.
Gleichzeitig wird das Hormon Vasopressin ausgeschüttet und bewirkt – neben einer zusätzlichen Gefäßverengung – eine Wasserrückresorption in den Nieren. Der Harndrang nimmt also ab. Der Appetit auf Nahrungsmittel sinkt, wie übrigens auch die Lust auf Sex. Meine Erfahrung hat mir aufgezeigt, dass man schlussendlich jede Sinneswahrnehmung umfassend herunterfährt.
Bis man mental und körperlich schlapp macht. Bis man sich dieser Tendenz so bequem wie möglich
entgegenstellen will. Bis man – in der Regel – kurzerhand nach der nächsten Zigarette greift. Und nach der nächsten. Und nach der nächsten danach. Denn: Die suchtbegünstigende Wirkung von Nicotin
besteht – aus meiner Sicht – ausgerechnet darin, dass die psychische und physische An- und Abregung fast synchron passiert, dass sie sehr rasant eintritt, im Handumdrehen auf den Geist geht und zügig aus dem Gefühl des Körpers verschwindet.

Im Rückblick wundert mich kaum mehr, dass ich ausschließlich in besonders unglücklichen
Lebensphasen zur Zigarette gegriffen habe.
Etwa, als vor knapp zehn Jahren mein hochbetagter Hund gestorben ist. Oder rund zehn Jahre davor, als mir dämmerte, dass ich mich nicht bloß wegen meines Auslandsstudiums von meinen Schulfreund_innen entfernen würde. Oder vor einigen Jahren, als ein geliebter Mensch per SMS ‘Schluss gemacht’ hat,
während ich mich noch fragte: Womit eigentlich?

Jana Chantelau, Berlin